Was für ein Kontrastprogramm in einer Woche: Da stellen die Felix-Burda-Stiftung und die Unternehmensberatung Booz Allen Hamilton eine Studie vor, in der festgestellt wird, daß beim Lifestyle-Diabetes jährlich Kosten von rund 27 Milliarden Euro gespart werden könnten – was einem guten Zehntel des Bundeshaushaltes entspräche. Die Methode, mit der das geht, kommt den Lesern dieser Kolumne bekannt vor, es ist die Lauber-Methode aus Messen! Essen! Laufen! Besonders erfreulich: Endlich wird in der Studie auch beim Lifestyle-Diabetes (heißt auch Typ2) eine regelmäßige Kontrolle des Blutzuckers gefordert - was ich schon immer propagiere.
Doch was nützen solche Studien, wenn zur selben Zeit der meinunungsbildende Hamburger SPIEGEL eine große Titelgeschichte zum angeblichen „Diätwahn“ veröffentlicht? Eine Geschichte, in der am prominentesten Ort des Blattes, der „Hausmitteilung“, das Enfant terrible der hiesigen Ernährungslehre, Udo Pollmer, schwadronieren darf: „Ein Kopfsalat entspräche ernährungsphysiologisch etwa einem Papiertaschentuch und einem Glas Wasser“. Daß gerade im Salat auch die von den Experten dieser Studie immer wieder geforderten Vitamine und Polyphenole stecken, braucht diesen Inhaber eines privaten kommerziellen Instituts nicht anzufechten. Und in einem groß aufgemachten Interview im Innern des Blattes darf er Gruselstories ausbreiten von Menschen, die durch die natürliche Wachsschicht von Äpfeln zu Tode gekommen seien.
Eine aberwitzige These, bedenkt man, daß der führende deutsche Diabetologe, Professor Dr. Werner Scherbaum vom Deutschen Diabetes-Zentrum, ganz bewußt zum genußvollen Verzehr gleich mehrerer Äpfel am Tag auffordert. Und wo der SPIEGEL-Autor Norbert F. Pötzl schon mal am Stänkern gegen die modernen Erkenntnisse ist, darf natürlich auch das ausgediente Schlachtroß der Ernährungstheorien nicht fehlen, Volker Pudel, mit der Aussage, es sei ein „Irrglaube, daß man von Zucker dick wird“ – weshalb er in der von ihm und der AOK propagierten „Pfundskur“ zum ausgiebigen Konsum von Kohlehydraten auffordert. Damit stimmt bei seiner Kur wenigstens der Name, denn die Leute werden dadurch ein paar Pfunde dicker.
Wobei die das natürlich nicht vom Zucker allein werden, der Vorgang ist leider etwas komplizierter: „Rund sechs Gramm Zucker hat ein ein 70 Kilo schwerer Mensch permanent an frei verfügbarem Zucker im Blut“, rechnet der Düsseldorfer Immunbiologe Professor Hubert Kolb vor. Trinkt dieser Mensch etwa eine Flasche Limo, erhöht sich dieser Wert schlagartig. Um diesen Zuckerschock zu kompensieren, schüttet der Körper genauso schlagartig Insulin aus, was schnell zu neuen Hunger- und Durstgefühlen mit neuer Nahrungsaufnahme führt. Und diese Zucker-Insulin-Schaukel macht dann das Dickwerden aus, wobei langfristig auch noch die insulinproduzierenden Zellen geschädigt werden, was den Lifestyle-Diabetes forciert.
Wie gesagt, das alles ist ein wenig komplizierter, aber auch wieder nicht so schwer, daß es nicht recherchierbar wäre. Wie das geht, hat ausgerechnet der SPIEGEL in einer bahnbrechenden Geschichte vom 27. September 2004 mit dem Titel „Gelernte Gesundheit“ beschrieben. Dort heißt es sehr richtig: „Zuckerreiche Nahrung führt in eine Essensfalle“ – mit den von mir gerade skizzierten Folgen. Aber diese Geschichte hatte ja auch nicht ein Redakteur geschrieben, der sich seine Liebe für fette Braten (mit Pollmer haute er beim Zwiebelrostbraten rein) verderben wollte, sondern von einer der körperlichen Vorgänge kundigeren Frau.
Nur Ärger, also über den Humbug aus Hamburg? Nein, es gibt auch etwas Schönes: Nämlich das Titelbild im neuen SPIEGEL: Eine ungemein lustmachende Zeichnung in Form einer Allegorie auf Botticellis „Venus“.
Hans Lauber, 23. Juni 2005