„Der Diabetes-Manager“
FAZ
Schon bald 300 Millionen Diabetiker
11. November 2009 Kolumne
Diabetes: Die neue Pest
Riesendebatten um die Schweinegrippe – obwohl zahlenmäßig nur wenige Menschen betroffen sind. Kaum Debatten um den Typ-2-Diabetes – obwohl allein in Deutschland Millionen Menschen betroffen sind. Obwohl jedes Jahr 300 000 neue Fälle dazu kommen. Obwohl die Betroffenen immer jünger werden. Obwohl weltweit in zehn Jahren rund 300! Millionen! Menschen an dieser Form des Diabetes leiden werden. Obwohl an den indirekten Folgen wie Herzinfarkt und Schlaganfall Millionen Menschen sterben. Obwohl der Typ-2-Diabetes damit längst eines ist: Die neue Pest.
Drei Gründe sind speziell in Deutschland für die Diabetes-Epidemie verantwortlich:
Ärzte denken zu wenig in Lebensstilkategorien Für sehr viele Ärzte ist der Typ-2-Diabetes eine „normale“ Krankheit, auf die „klassisch“ mit Medikamenten reagiert wird. Damit kommen sie stark den Wünschen ihrer Patienten entgegen, die auf ihren Diabetes gerne so reagieren: „Ich hab´ was, ich nehm´ was, ich muss nichts ändern“. Dabei zeigen weltweite Untersuchungen, dass ein Großteil der Betroffenen ihren Lifestyle-Diabetes allein durch eine Änderung des Lebensstils in den Griff bekommen kann, sodass sie keine oder kaum Medikamente brauchen.
Damit das aber geschieht, müssen die Ärzte diese Änderung zur primären Prämisse des Handelns machen – und zwar in aller Radikalität, auch gegen Widerstände der Patienten. Erst wenn alle Möglichkeiten der Eigeninitiative ausgeschöpft sind, darf der Griff zum Rezeptblock erfolgen. Das wird auch deshalb absolut erforderlich, weil die Kosten des Lifestyle-Diabetes sonst demnächst das eh schon finanziell angeschlagene Gesundheitssystem zum Einsturz bringen. Gerade in Deutschland wird dieses System auch deshalb so beansprucht, weil hier besonders schnell den Typ-2-Diabetikern das teure Insulin verordnet wird – ein Prozess, der sich wohl noch beschleunigen dürfte, wenn Chris Viehbacher, der Chef von Sanofi-Aventis (einer der großen Insulin-Produzenten), recht behält, der im FAZ-Interview sagte: „Das Insulin-Geschäft soll sich in den nächsten fünf Jahren verdoppeln“.
Übrigens: Die „Lauber-Methode“ aus „Messen, Essen, Laufen“ bietet einen sehr guten Ansatz für eine langfristig erfolgreiche Lebensstil-Umstellung.
Krankenkassen „suchen“ immer noch chronisch Kranke Es ist der Fluch der guten Tat: Die Umverteilung von Risiken innerhalb der Krankenkassen, dass also beispielsweise die AOK mit sehr vielen chronisch Kranken nicht die ganzen Lasten allein schultern muss. Das hat aber in der Praxis der Disease Management Programme und des Gesundheitsfonds zu der absurden Situation geführt, dass es sich für die Kassen „lohnt“ chronisch Kranke zu haben. So schrieb jüngst der SPIEGEL in seiner bemerkenswerten Geschichte „Die Krankmacher“ über den Gesundheitsfonds: „Bei Ärzten und Krankenkassen hat sich ein fundamentaler Sinneswandel vollzogen. Im Mittelpunkt steht nicht mehr der möglichst gesunde Mensch, sondern ganz im Gegenteil, der möglichst kranke“. Und Hans Unterhuber, Chef der Siemens Betriebskrankenkasse, sprach im SPIEGEL von einem „absurden System“.
Denn nur wenn jemand als Chroniker eingestuft wird, bekommt die Kasse richtig viel Geld aus dem Fonds. Kurzfristig mag das zutreffen, langfristig kann die Rechnung nicht aufgehen. Mich erinnert diese Denke an das kurzfristige Agieren an den Finanzmärkten – mit den bekannten Folgen.
Einen weiteren fatalen „Nebeneffekt“ hat diese Denkweise: Es fehlt der absolute Wille der Kassen, die Prävention und die Änderung des Lebensstils zur Maxime ihres Handelns zu machen.
Zuckersucht und Bewegungsmangel sind Zivilisationsgrundlagen Auch wenn viele Experten immer noch das Gegenteil behaupten: Die Durchsüßung der Gesellschaft ist eine der Hauptursachen für den Diabetes – und zwar über die „Zucker-Insulin-Schaukel“. Denn die übermäßige Zuckerzufuhr vor allem über „versteckte Zucker“ wie in Colas, auf die unser Organismus nicht eingerichtet ist, führt zur Ausschüttung des Dickmach-Hormons Insulin – und Übergewicht ist die wesentliche Ursache für Diabetes.
Das wissen die betroffenen Industrien natürlich nur zu gut – was etwa den erbitterten Widerstand gegen die „Lebensmittel-Ampel“ erklärt. Nicht dass die Ampel alle Probleme löste, aber ein roter Punkt auf allen süßen Dickmachern würde sehr vielen Verbrauchern, die oft fassungslos wenig über die Zusammensetzung von Lebensmitteln wissen, die Augen öffnen.
Aber die weltweit durchgesetzte westliche Lebensweise hat noch einen weiteren Diabetes-fördernden Mangel: Die für das reibungslose Funktionieren des Körpers notwendige Bewegung wird durch die allzeit verfügbare maschinelle Mobilität sträflich reduziert. Ohne ausreichende Bewegung sind aber alle Bemühungen um eine Eindämmung der Diabetes-Epidemie zum Scheitern verurteilt
Völlig unverständlich ist deshalb, dass der Sportunterricht ein Randfach ist, das auch noch als erstes ausfällt. Und dass in den Konjunktur-Paketen wieder nur der Straßenbau gefördert wird – und für die Radwege kaum Geld ausgegeben wird.
Was bedeutet das alles? Die rein medizinische Betrachtung des Diabetes wird das Problem nicht lösen. Diese Epidemie muss gesellschaftspolitisch angegangen werden. Noch haben die Akteure des Gesundheitssystems (zu dem auch die Lebensmittel-Industrie, die Schulen, die Betriebe zu zählen sind), die Chance, den notwendigen Übergang zu einem gesunden und „bewegenden“ Lebensstil aus eigener Kraft zu gestalten.
Verspielen sie diese Chance zu freiwilligen Maßnahmen, wird der Diabetes eine eigene Dynamik entfalten, die mit den Umwälzungen der Pest und der nachfolgenden Cholera vergleichbar ist: Denn diese Epidemien haben dazu geführt, dass die unhygienischen Zustände abgeschafft werden mussten, haben völlig neue Formen des Städtebaus, des Zusammenlebens erzwungen. Genauso wird der Diabetes dann eine Gesellschaft erzwingen, bei der beispielsweise alle Schüler nur noch zu Fuß oder mit dem Rad zur Schule kommen dürfen; wo große Teile der Süßindustrie verboten werden.
Die Debatten um die Einführung der „Ampel“ werden angesichts dieser kommenden radikalen Zwangseingriffe in der Rückschau dann nur noch wie harmlose Scharmützel wirken.
Nach obenÜbersicht Kolumne