„Der Diabetes-Manager“
FAZ
Diabetes-Epidemie eindämmen
28. April 2009 Das Interview
Warum brauchen wir Steuern auf Fast Food und Elektronische Medien?
Kämpft für eine präventive Gesellschaft: Prof. Stephan Martin
Kämpft für eine präventive Gesellschaft: Prof. Stephan Martin
Nur mit einem massiven Umbau der Gesellschaft lässt sich die Diabetes-Explosion eindämmen, sagt Prof. Dr. med. Stephan Martin, Direktor des Westdeutschen Diabetes-Zentrums in Düsseldorf. So fordert der renommierte Diabetologe Steuern auf alles, was ein ungesundes Leben fördert. Auch beklagt er, dass oft zu früh Insulin verschrieben wird, und er würde gerne Minister verklagen, die Sportunterricht streichen. Seine Vision: Eine "Grüne Diabetologie".
Wie viele Diabetiker gibt es derzeit?
Das wissen wir eigentlich gar nicht so genau, man geht von 7 bis 8 Millionen bekannten Diabetesfällen aus, hinzu kommen sicherlich 2 bis 3 Millionen unentdeckter Fälle. Somit kommen wir auf rund 10 Millionen Menschen mit Diabetes.
Wie viele kommen jährlich dazu?
Die Ergebnisse der Augsburger KORA Studie zeigen, dass allein in der Altersgruppe der 55 bis 74-Jährigen jährlich rund 250 000 neue Fälle hinzukommen. Auch bei den jüngeren Personen ist der Diabetes keine Seltenheit. Dr. Rathmann vom Deutschen Diabeteszentrum zeigte beim diesjährigen DiabetesUpdate in Düsseldorf, dass es in der Altersgruppe der 35 bis 59-Jährigen cirka 600.000 unentdeckte Diabetesfälle gibt. Wir haben eine Epidemie, welche das Gesundheitssystem in den nächsten Jahren sprengen wird. Der überwiegende Teil dieser Diabetesfälle wird dem Typ 2 Diabetes zugerechnet, der durch Übergewicht und Bewegungsarmut entsteht.
Sind damit aber nicht alle Aktivitäten, Aufrufe, Aktionsbündnisse der vergangenen Jahre gescheitert?
Im wesentlichen Ja
Woran?
Prinzipiell brauchen wir einen anderen Begriff von Gesundheit. Die Weltgesundheitsorganisation WHO definiert Gesundheit als "Zustand des vollkommenen körperlichen, seelischen und sozialen Wohlbefindens". Dabei ist der Begriff "sozial" häufig diskutiert und kritisiert worden. Wenn wir Typ 2 Diabetes, aber auch Bluthochdruck und Blutfette betrachten, welche die wesentlichen Risikofaktoren für Herzinfarkt und Schlaganfall sind, so führt diese Definition in die Irre. Kommt eine Person mit diesen Erkrankungen zu mir, so ist sie für sich selbst nämlich im Zustand des vollkommenen körperlichen Wohlbefindens, denn diese Erkrankungen merkt man nicht, es tut nicht "weh".
Was bewirkt Ihre Diagnose dann bei diesen Menschen?
Eigentlich etwas Widersinniges: Denn ich mache nach der WHO-Definition den Menschen vielleicht sogar krank. Wenn ich ihm von der Gefährdung berichte, kann er sein seelisches Wohlbefinden verlieren. Schlage ich etwa bei übergewichtigen Personen noch eine Lebensstil-Änderung vor, dann fühlt er sich richtig krank. Gesundheit fängt vor den Symptomen an, Gesundheit hat auch sehr viel mit nachhaltiger Lebensqualität zu tun, was oft vergessen wird
Also bleibt der Lebensstil der entscheidende Faktor?
Natürlich, und Sie wissen das ja nur zu gut, weil Sie Begriffe wie "Lifestyle- oder Lebensstil-Diabetes" geprägt haben, die das Dilemma exakt auf den Punkt bringen. Es ist in der Tat der Lebensstil aus falscher Ernährung und vor allem mangelnder Bewegung, der diese Epidemie auslöst. Dabei handelt es sich um ein gesellschaftliches Thema, bei dem als Schuldige Ihre ehemaligen Arbeitgeber – die Fernsehgesellschaften – angeprangert werden müssten. Diese halten durch sehr subtile Methoden die Menschen vor dem Fernseher, so dass sie nicht nur inaktiv sind, sondern die in vielen Werbebotschaften verpackten Verlockungen der Nahrungsmittelindustrie "aktiv" umsetzen.
Sieht das auch die Ärzteschaft so?
Immer mehr Ärzte sehen diese Zusammenhänge. Aber die Ärzte sind oft der falsche Adressat. Wie gesagt, es handelt sich ganz stark auch um ein gesellschaftliches Thema, der schwarze Peter darf nicht der Medizin zugeschoben werden. Die Folge ist dann der Griff zum Rezeptblock, der leider häufig auch von den Patienten verlangt wird. Die medikamentöse Lösung muss speziell bei jüngeren Personen mit Typ-2-Diabetes aber die Ultima ratio werden.
Wird auch zu schnell Insulin verschrieben?
Es gibt in Deutschland leider eine starke Tendenz zum frühen Insulin, bevor alle Möglichkeiten der Lebensstil-Änderung sowie oraler Antidiabetika ausgeschöpft sind. Wenn eine Lebensstilumstellung nicht als Basistherapie angewendet wird, verlagert eine frühe Insulintherapie das Problem nur um wenige Jahre. Insulin führt zu einer Gewichtszunahme, die Betroffenen sind aber schon dick. Nach wenigen Jahren reicht dann die Steigerung von Insulin nicht mehr aus und die Blutzuckerwerte sind selbst unter 150 bis 200 Einheiten Insulin pro Tag weiterhin hoch. Mit solchen Dosierungen an Insulin kann man unmöglich abnehmen, man steckt in einem Teufelskreis.
Was wäre die Alternative?
Ohne eine tiefgreifende gesellschaftliche Veränderung lässt sich die Diabetes-Epidemie nicht stoppen. Wir müssen uns von Grund auf anders ernähren, wir müssen Bewegung als etwas Selbstverständliches in das Leben integrieren. Und das Ganze muss schon in der Schule anfangen. Doch durch das Verkürzen der Schulzeit von 13 auf 12 Jahre geschieht insbesondere an Gymnasien genau der falsche Weg. In deutscher Gründlichkeit wird der Lernstoff aber nicht entrümpelt, sondern in kürzerer Zeit "eingetrichtert". Die Kinder haben lange Unterricht und müssen anschließend noch Hausaufgaben machen. Was leidet als erstes: der Freizeitsport! Manchmal denke ich mir als betroffener Vater, dass wir die verantwortlichen Schulminister wegen fahrlässiger Körperverletzung verklagen sollten.
Würden Verbote, Gesetze weiter helfen?
Prinzipiell bin ich kein Freund von Verboten, von gesetzgeberischen Eingriffen. Aber wenn das Allgemeinwohl in Gefahr ist, muss die Freiheit des Einzelnen enden. Was wäre der Straßenverkehr ohne Geschwindigkeitsregeln.
Was schlagen Sie im Einzelnen vor?
Was wir schon einmal vor langer Zeit gefordert haben: Etwa eine Inaktivitätssteuer auf alles, was Inaktivität auslöst, Computerspiele, Gameboys, Werbeeinnahmen der Fernsehgesellschaften. Aber möglicherweise auch präventive Steuern für Süßwaren, vielleicht auch für Fast Food. Diese Gelder müssen dann zweckgebunden für professionelle Programme zur Änderung des Lebensstils ausgegeben werden.
Verbote allein werden nicht ausreichen?
Das stimmt, aber sie sind ein wichtiger Teil. Gleichzeitig würde ich versuchen, die sogenannten Bösewichte ins Boot zu holen. Ich habe keine Probleme, mit einem Fast-Food-Produzenten ein Präventionsprojekt zu starten.
Was kann die Politik, was können die Kassen tun?
Auch wenn dies viele Kollegen anders sehen, so ist für mich der Morbi-RSA (RSA steht für Risikostrukturausgleich, ein Instrument, mit dem Kassen Geld unter einander verteilen, HL) ein Schritt in die richtige Richtung. Hier bekommen die Kassen aus dem Gesundheitsfonds für Personen mit Diabetes oder anderen chronischen Erkrankungen mehr Geld, als für gesunde Versicherte. Bisher gab es in Deutschland kein Früherkennungsprogramm mit solchen Erfolgsaussichten. Die Krankenkassen werden ihre Versicherten und die zuständigen Hausärzte in den kommenden Jahren dazu bringen, Früherkennungsuntersuchungen auf Diabetes oder Bluthochdruck durchzuführen.
Bringt das etwas?
Auch wenn es monetäre Aspekte sind, so finde ich es gut. In einem weiteren Schritt müssen dann Programme gestartet werden, die Menschen bei Lebensstil-Änderungen unterstützen. Auch das werden die Kassen bald unterstützen, denn ein früh entdeckter Diabetes oder Bluthochdruck lässt sich sehr gut durch etwas weniger Essen und etwas mehr Bewegung gut behandeln. Bei einer alleinigen Tablettentherapie können diese Erkrankungen auf längere Zeit sehr teuer werden.
Wie entwickelt sich die Rolle der Ärzte?
Leider wird der Hausarzt immer mehr zum Abladeplatz von gesellschaftlichen Problemen. Dies kann so nicht weiter gehen, denn sonst haben wir bald keine Ärzte mehr. Auch wenn dies lange negiert wurde, so haben wir in bestimmten Regionen bereits heute einen Ärztemangel, und der wird sich in den kommenden Jahren gehörig ausweiten. Wir müssen die Ärzte entlasten.
Um Änderungen des Lebensstils über Ernährungsumstellungen und des Bewegungsverhaltens zu vermitteln, benötigt man aber kein langjähriges Medizinstudium. Hier müssen wir ganz neue Strukturen im Gesundheitssystem schaffen, welche die Ärzte in ihrer Arbeit unterstützen. Nennen wir sie mal "Medizinische Lifestylezentren" mit Motivationstrainern, Ernährungsberatern und Physiotherapeuten – hier können Patienten beraten und motiviert werden. All den Skeptikern, die an diesen Punkt unisono sofort in eine depressive Stimmung verfallen und meinen, dass dies sowieso nichts bringt, stelle ich die Frage: Wurde dies wirklich schon einmal im großen Stil versucht? Wir brauchen professionelle Strukturen und den Willen, nicht vor dem allgemeinen Zeitgeist zu kapitulieren.
Welche Vision haben Sie?
Ich träume einer Nachhaltigkeit nicht nur bei der Ökologie, sondern auch bei der medizinischen Betreuung. Ich träume davon, dass wir bei den metabolischen Erkrankungen nicht die Folgen, sondern primär die Ursachen bekämpfen. Man kann dies auch ganz einfach als "Grüne Diabetologie" bezeichnen.
Professor Dr. med. Stephan Martin ist Ärztlicher Direktor des Westdeutschen Diabetes- und Gesundheitszentrums, Sana-Kliniken, Düsseldorf. Zuvor war er leitender Oberarzt bei der Deutschen Diabetes-Klinik Düsseldorf. Er initiierte die "Rosso-Studien", die eindeutig nachweisen, dass die Änderung des Lebensstils, gekoppelt mit einer regelmäßigen Blutzuckermessung, die Diabetes-Folgen deutlich vermindert. Der Vater zweier Kinder schrieb für das Buch "Fit wie ein Diabetiker" von Hans Lauber das Vorwort.
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