„Der Diabetes-Manager“
FAZ
Für eine gesunde Gesellschaft
9. November 2011 Interview
Diabetes überrollt uns – mangels Prävention!
Kämpfen für Prävention: Prof. Rüdiger Landgraf und Reinhart Hoffmann
Kämpfen für Prävention: Prof. Rüdiger Landgraf und Reinhart Hoffmann
Lässt sich die dramatische Ausbreitung des Typ-2-Diabetes, die unser Gesundheitssystem bedroht, stoppen? Darüber habe ich mit der Deutschen Diabetes-Stiftung DDS gesprochen – und zwar mit Prof. Dr. med. Rüdiger Landgraf, dem Vorsitzenden des Kuratoriums, und mit Reinhart Hoffmann, dem Beauftragten des Vorstands der DDS.
Wird es dieses Jahr wieder rund 300 000 neue Typ-2-Diabetiker geben?
Ja, wenn wir die bisherigen diagnostischen Kriterien anwenden, werden es sogar noch mehr Betroffene werden. Wobei es derzeit einen Konsensus der amerikanischen Diabetes Association und der WHO gibt, die Kriterien für die Diagnose zu verändern. Danach hätte nur noch einen Diabetes, wer einen Langzeitwert HbA1c von größer 6,5 Prozent aufweist. Würden sich diese Kriterien durchsetzen, reduziert sich die Zahl der Neuerkrankungen "künstlich" auf etwa die Hälfte.
Gibt es bald auch bei uns diesen "weicheren" Kriterienkatalog?
Damit rechnen wir spätestens dann, wenn es für die Kassen nicht mehr finanziell lohnend wäre, zu viele Chroniker in ihren Reihen zu haben.
Was die Betroffenen aber nicht gesünder machte
Sicher nicht, denn mit diesem neuen Diagnosekriterium würde eine Diabetes-Früherkennung des Typ-2-Diabetes bei Menschen mit einem HbA1c von kleiner 6,5% konterkariert. Wir wissen aber eindeutig, dass auch bei diesen Menschen bereits diabetische Komplikationen vorhanden sein können.
Hätte das dann auch Auswirkungen auf die Gesamtzahl der Diabetiker in Deutschland?
Wenigstens auf dem Papier würde es weniger Betroffene geben. Realistischer ist es aber weiterhin, von rund sieben bis acht Millionen behandelten Diabetikern auszugehen, zuzüglich einer Dunkelziffer von drei bis vier Millionen. Damit können wir schon bald von zwölf Millionen Typ-2-Diabetikern ausgehen. Dies ist eine Dimension, die schon bald unser Gesundheitssystem sprengen wird - abgesehen von den persönlichen und sozialen Konsequenzen.
Wie viele der Betroffenen können durch eine Änderung des Lebensstils, ihren manifesten Diabetes wieder ins Stadium der Disposition zurückführen?
Rechnet man die ganz Alten, die kaum mehr ihre Lebensgewohnheiten ändern können und sollen, sowie diejenigen, bei denen solche Maßnahmen trotz intensiver Bemühungen und Hilfen nicht fruchten, herunter, käme man auf eine Zahl von drei bis vier Millionen Menschen mit Typ-2-Diabetes.
Bei diesen könnte eine Lebenstil-Intervention erfolgreich sein. Würde dies tatsächlich angepackt, gäbe es riesige Einsparpotentiale, allein bei oralen Antidiabetika und Insulin im Bereich von über einer Milliarde Euro – ganz zu schweigen von den wegfallenden Folgekosten für diabetische Komplikationen wie etwa Nierenschäden, Myokardinfarkt und Schlaganfall. Und natürlich den sozialen Kosten, etwa von Frühverrentung.
Aus volkswirtschaftlicher Sicht kostet ein Typ-2-Diabetiker pro Jahr über 9.000 Euro, das macht bei vier Millionen Betroffenen mit Chancen für Lebensstil-Intervention allein über 36 Milliarden Euro – jährlich !
Sehen Sie dafür notwendige Präventionsanstrengungen?
Leider nein. Prävention hat keine Lobby, weil sie nur langfristig wirkt. Politik und Krankenkassen denken aber kurzfristig, schieben die soziale Verantwortung dem Einzelnen zu. Und die Kassen geben lediglich eine verschwindend kleine Summe für Prävention aus. Im Wesentlichen beschränken sie sich darauf, aus dem vorhandenen Topf möglichst viel für reparative Medizin und Kunden-Marketing herauszuholen
Was müsste sich ändern?
Wir brauchen einen grundsätzlichen Systemwechsel. Die Ärzte müssten vor allem dafür bezahlt werden, die Menschen gesund zu erhalten. Heute "lohnt" es sich traurigerweise eher, die Patienten als "Kranke" zu behandeln. Wir haben eben prinzipiell ein Krankheits- und kein Gesundheitssystem
Was haben die Disease Management Programme (DMP) gebracht?
Das lässt sich schwer einschätzen, weil die Kassen und deren Auftraggeber ganz unterschiedliche – und widersprüchliche – Daten und Evaluationen publizieren. Wichtige Kriterien erfolgreicher DMPs wie "Steigerung der Lebensqualität" und "Therapiezufriedenheit", eine Kostenreduktion und gelebte interdisziplinäre Betreuung der meist komplex Erkrankten werden entweder nicht erhoben oder nicht publiziert. Das ist alles sehr intransparent und die Nutzeneinschätzung hängt sehr stark davon ab, was es finanziell gebracht hat. Die AOK, der größte DMP-Profiteur, lobt die Programme als Erfolg; die Techniker Krankenkasse fühlt sich als "Blutspender der AOK" und sieht das Ganze sehr skeptisch. Eine Kosten-Nutzen-Rechnung liegt nicht vor.
Fördern die DMPs die medikamentöse Diabetes-Behandlung?
Tendenziell ja. Denn je mehr "Metformin-Patienten" ein Arzt hat, desto besser stellt er sich. Für die Basisbehandlung, also die langfristige Begleitung der Lebensumstellung, bekommt er praktisch keine Vergütung. Wobei klar ist, dass es natürliche Grenzen der Lebensstiländerung gibt – etwa durch Alter, Multimorbidität, Bildung sowie soziale Möglichkeiten.
Wann werden die Kassen zur Prävention gezwungen?
Wenn der Diabetes und vor allem seine Folgekosten unser System ruiniert haben. Wenn die Entwicklung so rasant weiter geht, wird das in spätestens zehn Jahren der Fall sein.
Wer wären die natürlichen Verbündeten der Prävention?
Wichtige Institutionen wären Kinderkrippen, -gärten, Schulen, Betriebe und auch die Rentenversicherung, welche die Folgen einer Frühverrentung tragen müssen. Dazu gibt es ermutigende Signale aus einigen Bundesländern, speziell auch aus Baden-Württemberg.
Warum gerade von dort?
Weil die sehr stark den Facharbeitermangel spüren – und deshalb inzwischen ein echtes Interesse an langzeitig "fitten" Mitarbeitern haben. Wobei sich das Präventions-Interesse erfreulicherweise zunehmend auf Betriebe und Behörden ausdehnt.
Ist der Einzelne allein "schuld" an seinem "Zucker"?
Das ist eine Denkweise, die nicht weiter führt. Sicher kann und muss der Einzelne aktiv werden, aber das hat auch seine Grenzen, etwa bei den "dünnen" Typ-2-Diabetikern, die sich richtig ernähren und bewegen und trotzdem überhöhte Werte haben. Das ist auch ein Einwand der DDS gegenüber Ihrem "Diabetes-Manifest", weil Sie zu stark auf den "Lebensstil-Diabetes" fokussieren. Trotzdem stehen darin wichtige Forderungen, die auch wir unterstützen.
Welche?
Die Lebensmittel-Ampel ist längst überfällig, denn die Konsumenten wissen erschreckend wenig über die Wirkung von Lebensmitteln auf den Stoffwechsel, etwa die fatale Rolle von zu viel Zucker. Deshalb begrüßen wir auch Bestrebungen für eine "Sweet- und eine Fat-Tax", wenn auch die Ausgestaltung im Einzelnen schwierig ist. Das alles muss Teil eines gesundheitspolitischen Masterplans werden.
Leider sendet auch die Wissenschaft widersprüchliche Signale
Da haben Sie Recht. Was von Fachgesellschaften als Ernährungs-Leitlinien veröffentlicht wird, ist zwar begründet, aber die Evidenz ist durch die relativ schlechte Studienlage nicht belastbar. Auch sind die prozentualen Verzehrempfehlungen, etwa der Kohlenhydratanteil einer Mahlzeit, in der Praxis nicht umsetzbar.
Was wäre ein Königsweg?
Lebensmittelkunde und Ernährung müssten schon vom Kindergarten an vermittelt werden – und zwar mit der Prämisse: Essen zubereiten und genießen macht Spaß!
Was tut die DDS für die Prävention?
Das wissen Sie als Beirat ja bestens. Wir möchten unter unseren vielen Aktivitäten, etwa "Xund in BaWü", nur eine besonders herausgreifen: Die Forderung nach einem frühen und umfassenden Screening der in Deutschland Lebenden auf Typ-2-Diabetes. Denn wenn es uns gelänge, aus der allseits bekannten millionenfachen Dunkelziffer einige hunderttausend recht- und frühzeitig zu erkennen, dann könnte längerfristig die Milliarden teure gesundheitspolitische Zeitbombe entschärft werden.
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